„Der Prozess“ der (nicht) nachhaltigen Ruhe von Meran

Meran widmet das Jahr 2020 Franz Kafka. Ein ganzes Gedenkjahr, das dem Aufenthalt des Prager Schriftstellers in der Stadt an der Passer vor hundert Jahren gewidmet ist. Hier hat es Kafka gefallen. Im April 1920 schrieb Kafka aus der Pension Ottoburg in Untermais an seine Freundin Milena: „Ich lebe hier sehr gut, mehr Kuren könnte der sterbliche Leib kaum ertragen …“ Es scheint, Meran will sich heute, nach fast einem Jahrhundert, nicht zu weit von diesem Image entfernen: ein zufriedenes, friedliches Leben, Thermen und Kuraufenthalte für ältere und berühmte Personen. Man könnte sagen: „Besuchen Sie Meran, bevor Meran Sie besuchen muss.“
Ich komme an einem warmen Vormittag im September an und der erste Eindruck entkräftet nichts des soeben Behaupteten. Die Straßen im Zentrum sind überfüllt mit Touristen und Anwohnern, aber es ist keine Fliege zu hören. Die Touristen scheinen bei ihrer Ankunft in der Stadt Filzschuhe erhalten zu haben, um lästige Geräusche und unerwünschten Schmutz zu vermeiden. Alle Paare reden flüsternd miteinander; ich bin so verwirrt, dass ich mit meinem mp3-Rekorder eine Audioaufnahme mache.
Nicht weit entfernt vom Sitz der „Kurverwaltung Meran“ verkauft ein Kiosk Eintrittskarten für den „Großen Preis von Meran“, dessen Austragung in den nächsten Wochen auf dem allseits bekannten Pferderennplatz stattfindet. Begleitet wird dieses Event von außergewöhnlicher Unterhaltung, die auch all jene anspricht, denen Pferde nicht gefallen. Dazu zählen: die Wahl der „Lady Fashion“ (erster Preis ein Schmuckstück, zweiter Preis ein Galadinner, dritter Preis ein Hut) und eine Unterhaltung für die Kinder, die eher zur Stadt als in die Zeit passt: eine Fahrt in einem Heißluftballon. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass der einzige Straßenmusiker, den ich treffe, auf einer Harfe spielt. Zwar spielt er nicht die Sonate VI in A-Dur von Pietro Domenico Paradisi, durch den Gesamteindruck ist jedoch ein Klangeffekt garantiert, der den ehemaligen Unterbrechungen des Fernsehsenders „Rai“ ähnelt.

Den Dom, der keiner ist, lasse ich hinter mir und bald spaziere ich allein durch die Gassen und letztendlich schließt auch mich die Atmosphäre von Meran in ihre Arme. Der weniger touristische Bereich ist absolut nicht trivial und seine Schönheit berührt mich. Ich durchquere sogar eine Straße mit vollgeschriebenen Wänden. Sie ist durch den klassischen Geruch all jener gekennzeichnet, die am Vorabend zu viel Bier genossen und es nicht mehr bis zur heimischen Toilette geschafft haben.
Ich versuche zu vermeiden, mich durch die ersten Eindrücke beeinflussen zu lassen und treffe mich mit Mauro Cereghini, Kulturveranstalter, Ansprechpartner in Meran für Upad und Autor, zusammen mit Michele Nardelli, des Buchs „Sicurezza“ (Verlag Edizioni Messaggero).
Ich bitte Cereghini, mir über das zu berichten, was ich nicht gesehen habe und für das ich selbst keine Zeit finde, angefangen bei einem Artikel in einer lokalen Tageszeitung, der hoffentlich nicht den Gemeinschaftssinn der Stadt widerspiegelt. Der Inhalt beschäftigt sich mit der Wut der Anwohner der Gegend um die Ugo-Foscolo-Straße, die der Lärm stört, der aus einem nahe gelegenen Garten kommt: „Die Kinder der nahe gelegenen Grundschule nutzen den Park am Ende der Ugo-Foscolo-Straße, schreien und beeinträchtigen die Anwohner dadurch in Ruhe zu essen oder die Nachrichten anzusehen.“

Meine erste Frage ist daher: „Steht in Meran die Ungestörtheit jener, die zur Mittagszeit die Nachrichten sehen wollen, über der Möglichkeit von Kindern im Park zu spielen?“
„Ich glaube, dies ist nur für einen Teil von Meran repräsentativ“, präzisiert Cereghini. „Leider treten auch in anderen Städten diese Probleme auf, aber in Meran besteht auch eine sehr hohe Nachfrage nach Raum für die Sozialisierung. Und diesen Nachfragen wird oft nachgekommen. Ich glaube, dass diese Angelegenheit das Ergebnis einer Einstellung ist, die sich nur in einigen Bevölkerungsteilen widerspiegelt. Diese Themen sollten aufmerksamer beobachtet werden.“ Genau deswegen sind wir hier …
„Aus einigen Stadtvierteln verschwanden die Kinder aus unterschiedlichen Gründen, einer davon ist der Geburtenrückgang. Jetzt sind sie zurückgekehrt, jedoch sind sie vor allem ausländischer Herkunft. Es sind Kinder, die den Hinterhof so nutzen, wie wir und vorherige Generationen es taten. Das wird nun aber bisweilen als belastend empfunden. Es ist augenfällig, dass wir erneut zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen müssen. Im Stadtviertel von St. Vigil versuchen wir, dies durch ein Projekt umzusetzen, das Erzählungen von alten und neuen Bewohnern des Stadtviertels vergleicht. Schön wäre es, wenn das Treffen täglich erfolgen würde, denn nicht selten ist es so, dass dieselben alten Bewohner, die sich über das Verhalten der Jugendlichen beschweren, diese beim nächsten Stadtteilfest mit Torten überhäufen. Außerdem muss man bedenken, dass gerade in Vororten, in denen wenig passiert, selbst kleine Störungen nur schwer akzeptiert werden. Vakuum erzeugt Unbehagen, die Pflege von Beziehungen und Gemeinschaft würden die Dinge verbessern.
Cereghini muss wieder zur Arbeit und überlässt seinen Platz am Tisch im Café, in dem wir uns trafen, Marcello Fera. Er ist Komponist, Orchesterdirigent, Violinist, Direktor und Gründer des „Ensemble Conductus“, künstlerischer Leiter des Festivals „Sonora“ und der musikalischen Aktivitäten von „Kunst Meran“.
Ich gebe allerdings zu, dass ich das Interview mit ihm nur führe, weil ich ihn besonders brillant und amüsant finde. Ich teile ihm meinen Eindruck mit, den ich beim Flanieren durch das Zentrum von Meran gewonnen habe: ein Ort, der seine Besucher geprägt hat, eine Stadt, deren Bewohner sich an die Stadt und ihre prächtige „Kulisse“ angepasst haben und nicht wie üblich umgekehrt.
Fera stellt sofort klar, dass er meine Meinung nicht teilt: „Ich verstehe, was du meinst, aber leider ist Meran auch bzw. hauptsächlich so, wie sie ihre Bewohner bevorzugen. Wie in anderen nicht besonders großen, abgeschiedenen und reichen Städten arrangieren sich diese Personen ohne große Probleme mit Wohlstand. Daher glaube ich, dass Meran den von ganz Südtirol gelebten Lebensstil widerspiegelt – nur etwas übertrieben vielleicht.“
Fera bestreitet nicht, dass ihn einige Aspekte seiner „Wahlstadt“ stören, aber wie viele derer, die hier nicht geboren wurden – mich eingeschlossen –, weiß er, dass die Alternative vermutlich viel schlimmer wäre: „Hier konnte ich Projekte realisieren, von denen ich in meiner Geburtsstadt Genua nur hätte träumen können. Alle, die einen Kinderwunsch hegen, finden in dieser Stadt einmalige, im restlichen Italien unvorstellbare Bedingungen vor. Und auch aus kultureller Sicht kann sich sicherlich niemand beklagen, das Angebot ist wirklich überwältigend. Jedoch werden leider die großartigen Möglichkeiten nicht genutzt, die diese Gegend anbietet. Die Annehmlichkeiten, die ich vorher ansprach, sind Ursache dafür, dass die Dinge sich nur langsam ändern. Die besondere geografische Lage und die ethnische Zusammensetzung des Landes sind Schätze, die kaum genutzt werden. Nochmal zum Thema, ob sich die Stadt ihren Bürgern anpasst oder umgekehrt: Diesbezüglich weise ich auf die Veränderungen der letzten Jahre hin, insbesondere was das historische Stadtzentrum betrifft. Es wurden schwere Fehler gemacht und andere werden noch folgen, gleichzeitig hat der Mietenanstieg nicht nur soziale sondern auch kulturelle Folgen. Nicht zufällig gibt es keine Treffpunkte und Plätze für Livemusik mehr, die das kulturelle Leben fördern und Künstler und Interessierte auch von außerhalb der Stadt zu einem Besuch einladen. Sie sind durch Touristenlokale ersetzt worden.“


Ich verabschiede mich nun auch von Fera und fahre nach Bozen zurück, im Gepäck eine weniger schematisierende Meinung von Meran. Diese Stadt ist anderen insoweit ähnlicher, als sie ebenso mit Widersprüchen und entgegengesetzten Anreizen leben muss. Als ich auf meinem Rückweg zum Bahnhof bin, bestätigt mir dies eine lange Autoschlange nach typisch italienischer Art, die den Verkehr in Richtung Zentrum verstopft. Die Autos stehen seit einigen Minuten still, als eines zu hupen beginnt und nicht mehr aufhören will.
Hurra, auch in Meran verliert jemand die Geduld! Vor lauter Freude werfe ich meine Filzschuhe in die Luft.

Massimiliano Boschi

Erschienen am 21. September 2019

Dieser Artikel wurde im Band ‘Südtirol doc. Eine Reise jenseits der Stereotypen” veröffentlicht.

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