Franzensfeste: Schmelzpunkt und Sprachgruppen, die an Sinn verlieren
Wir veröffentlichen auf Deutsch die Artikel des Alto Adige doc, die bereits auf Italienisch erschienen sind.
„Hier ist eine nach Sprachgruppen gegliederte Unterteilung der Schulklassen weder sinnvoll noch logisch. Seit Jahren treffen wir uns mit den zuständigen Verwaltungen. Erfolglos. Diskutiert wird über alles außer darüber das System zu vereinheitlichen.“ Thomas Klapfer, Bürgermeister von Franzensfeste und SVP-Kandidat, bestätigt dies mit großer Gelassenheit und ohne ideologischen Ansatz, aber ausgehend von der Realität und der jüngsten Geschichte der von ihm verwalteten Gemeinde. Innerhalb von nur wenigen Monaten führt es mich nun das sechste Mal nach Franzensfeste und ich merke, dass ich von dieser Ortschaft, die 999 Einwohner besitzt und einen Ausländeranteil von über 25 % aufweist – dem höchsten des Landes –, einfach begeistert bin. Eine etwas seltsame Leidenschaft für einen Ort, in dem es wirklich sehr wenig zu sehen, aber sehr viel zu lernen gibt. Ich betrete das Rathaus um zehn Uhr an einem grauen Morgen im April und will die erstbeste Tür öffnen, als ich bemerke, dass es die einer Arztpraxis ist. Die Gemeindebüros, auch das des Bürgermeisters, befinden sich im ersten Stock.
Klapfer stellt sich vor und bittet mich, an einem langen Tisch Platz zu nehmen, auf dem Dokumente über die Gemeindebilanz liegen. Nichts ahnend von meiner „schrägen Leidenschaft“ für die von ihm verwaltete Gemeinde, erhalte ich eine historische Zusammenfassung, die sich auf die letzten Jahre konzentriert. „Diese Ortschaft war noch nie wie die anderen. Hier war das Zusammenleben zwischen den beiden Sprachgruppen schon immer gut. Nach dem Krieg war die Bevölkerung immer gemischt gewesen. Ich lernte Italienisch, als ich mit den Kindern der Eisenbahner und der Alpini spielte und heute kann ich behaupten, dass dies ein großes Glück war.“
In jenen Jahren lebten in Franzensfeste dank der Eisenbahn, der Grenze und des Viehmarkts über 1.500 Einwohner. Dies waren alles gut bezahlte Stellen, für die besondere Kompetenzen notwendig waren. Diese Welt zerbrach im Jahr 1992, als die Schengener Abkommen beschlossen und interne Grenzen in Europa aufgehoben wurden. „Ein wichtiger Schritt für die Europäische Union, der hier aber alles verändert hat“, schickt der Bürgermeister voraus. „Seit 1992 haben wir uns noch nicht erholt. Viele sind weggezogen und der Preis für Wohnungen ist eingebrochen, wodurch neue Bewohner zugezogen sind. Sie machen heute etwa 26 % der Bevölkerung aus.“ Dies hat natürlich die soziale Struktur des Dorfes verändert: „Verwaltungstechnisch gibt es keine Probleme, die Schwierigkeiten betreffen hauptsächlich das soziale Leben. Diese 26 % der Bevölkerung stammen aus 25 unterschiedlichen Ländern. Die größte nationale Gruppe davon besteht aus wenigen Duzend Einwohnern. Dies ist durchaus als Vorteil zu sehen, weil es die Bildung von Gettos verhindert. Jedoch verhindert es auch die Gründung von Einrichtungen, die bei der Integration und der sozialen Bildung helfen würden. Wenn wir zusätzlich berücksichtigen, dass einige Immigranten hier nur ein provisorisches Lager aufschlagen, beginnt man das Ausmaß des Problems zu begreifen. Auch ein Erwerben der italienischen Staatsbürgerschaft ist keine Stabilitätsgarantie, im Gegenteil. Viele, die sie beantragen, sind hauptsächlich am Pass interessiert. Dieses Dokument erlaubt es ihnen, in ganz Europa zu reisen und an Orte zu gelangen, die wirtschaftlich attraktiver sind.“
Fast alle in Franzensfeste gemeldeten Ausländer arbeiten in Brixen, Sterzing, Bruneck oder Bozen, aber keiner am Brennerbasistunnel. All dies hilft unserer Ortschaft im oberen Eisacktal nicht beim Neubeginn. „Diese Überlegungen gelten nicht nur für Ausländer, sondern für alle Bewohner. Der große Unterschied besteht in der familiären Zusammensetzung. Ausländer bekommen viel mehr Kinder als die Einheimischen, aber das ist normal. Auch hier waren die Familien bis vor einigen Jahren groß und die Almen waren mit Familien mit zehn oder fünfzehn Kindern bevölkert. Der Wohlstand hat das geändert.“
Dies sind Aussagen, die öfter beachtet werden sollten. Die Fakten bezeugen jedoch die anfänglichen Äußerungen des Bürgermeisters. In Franzensfeste gibt es nur zwei Grundschulen; auf einer wird Italienisch, auf der anderen Deutsch gesprochen. Die Italienisch sprechende Schule, Collodi, wird im Augenblick von 13 Schülern besucht – 3 sind Italiener, 10 sind Ausländer. Die Deutsch sprechende Schule wird von 38 Schülern besucht. 22 davon sind Ausländer, 12 besitzen eine doppelte und 4 besitzen eine italienische Staatsangehörigkeit. Schon allein diese Zahlen bestätigen die anfänglichen Aussagen des Bürgermeisters, aber es gibt noch mehr: „Es liegt auf der Hand, dass die Aufteilung einer so hohen Ausländerzahl auf die italienische und deutsche Schule keiner Logik folgt. Dies ist für alle einleuchtend. Warum sollen Pakistaner, Marokkaner oder Albaner der italienischen oder deutschen Sprache zugeordnet werden? Außerdem ist unsere Schule seit Jahren eine Versuchsstätte. Wir haben das Modell von Franzensfeste zu beschreiben versucht und haben Treffen mit der Landesschulverwaltung abgehalten, um den geringen Sinn aufzudecken, die wenigen Schüler (38 an der deutschen Schule) und die noch wenigeren Schüler (13 an der italienischen Schule) zu trennen, aber es hat nichts gebracht. Dieses Thema wird als delikat betrachtet und daher nicht angegangen.“
Natürlich gehört das Thema Schule nicht zum Aufgabenbereich eines Bürgermeisters, dennoch hat Klapfer eine genaue Vorstellung: „Uns gefiele es, eine einzige zweisprachige Schule zu besitzen, das würde uns aufgrund verschiedener Gesichtspunkte helfen. Im Moment bevorzugen es viele Italienisch oder Deutsch sprechende Bewohner, ihre Kinder an der Schule von Vahrn oder Mittewald einzuschulen, aber eine zweisprachige Schule wäre viel attraktiver. Wer in Franzensfeste lebt, kennt die Vorteile. Allerdings gibt es noch ein weiteres Problem. In Franzensfeste gibt es nur einen italienischen Kindergarten (der deutsche befindet sich in Mittewald) und der betreut ungefähr dreißig Kinder, fast alles Ausländer. Gut 80 % dieser Kinder gehen anschließend aus unterschiedlichen Gründen in die deutsche Grundschule und dadurch entstehen natürlich einige Lernprobleme.“ Der Ansatz von Klapfer ist nicht ideologisch geprägt. Er wünscht sich offensichtlich, Gehör zu finden, um die Probleme einer Gemeinde beschreiben zu können, die für die Zukunft von Südtirol eine sehr interessante Versuchsstätte sein könnte, aber ignoriert wird.
Franzensfeste hat sich aufgrund der Schengener Abkommen und der Immigrationsbewegung – globale Themen, auf die das Land keinerlei Einfluss hatte – in den letzten fünfundzwanzig Jahren radikal verändert. Die lokale Verwaltung hat aber die Möglichkeit, den Einwohnern in Bezug auf verschiedene Umstände Gehör zu schenken und so in einer kleinen, leichter zu verwaltenden Gemeinde vorzeitig zu handeln. Verschiedene Signale deuten jedoch darauf hin, dass man es vorzieht, den Blick abzuwenden und keine hinreichenden Maßnahmen gegen offene Probleme zu ergreifen. Ein weiterer Anhaltspunkt, der diesen Sachverhalt bestätigt, ist eine für Franzensfeste bald eintretende Änderung. Der Eisenbahnzubringer, die so genannte Riggertalschleife, wird Schabs mit der Brennerlinie verbinden. Dadurch entsteht eine Direktverbindung mit der Pustertaler Bahn, die das Umsteigen in Franzensfeste unnötig macht. „Ich könnte jetzt lange über diese Variante reden,“ endet der Bürgermeister, „und aufzeigen, dass es sich um einen strategischen Fehler handelt, weil anscheinend nicht bedacht wird, dass genau bei Franzensfeste die Zugangsstrecke zum Brennertunnel entsteht. Unser Bahnhof könnte also der Bahnhof werden, an dem die Züge nach Innsbruck und München halten, Städte, die durch den Tunnel viel schneller erreichbar sind. Stattdessen bleiben wir außen vor. Zwar werde ich weiter das Projekt anfechten, aber ich habe verstanden, dass das Land diesbezüglich kein großes Gewicht hat. Deshalb hat sie beschlossen, sich auf den lokalen Verkehr zu beschränken, ohne internationale Verbindungen in ihre Überlegungen einzubinden.“
Zwar ist es ein komplexes Argument, jedoch sollte man verstehen, dass Südtirol keine Insel ist und hauptsächlich internationale Verbindungen – nicht nur die des öffentlichen Transportwesens – über die Zukunft dieser Gegend und aller anderen entscheiden werden. Oft werden die Politiker beschuldigt, ständig Wahlkampf zu betreiben, aber vielleicht helfen die nachfolgenden Daten dabei, dass einige Stellen aufhorchen. Bei den letzten Landtagswahlen erhielt die SVP in Franzensfeste die meisten Stimmen mit 125 (30,6 %). Wie berichtet, gibt es ungefähr 250 ausländische Bewohner, davon sind 160 volljährig. Das sind Menschen, die hier ihre Steuern zahlen und früher oder später natürlich das Wahlrecht erhalten. Bürgermeister Klapfer bekundet: „Ich werde der letzte oder vorletzte Bürgermeister von Franzensfeste sein, der einen deutschen oder italienischen Nachnamen trägt.“ Daran gibt es nichts auszusetzen, im Gegenteil, aber wie werden diese 160 „Neubürger“ abstimmen, wie nähern sie sich dem demokratischen Wahlprozess? Fühlen sie sich heute aufgenommen oder ausgegrenzt?
Wer sich der Illusion hingibt, Franzensfeste wäre eine in Ungnade gefallene Kleinstadt und die Zukunft wird woanders entschieden, kann einen Abstecher in die modernsten und zukunftsorientiertesten Städte London und Rotterdam machen. Vielleicht wird es ihnen dort auch möglich sein, die beiden Bürgermeister Sadiq Khan und Ahmed Aboutaleb zu treffen.
Massimiliano Boschi
Erschienen am 13. April 2019
Immagine di apertura ©Venti3